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BAG-Urteil: Arbeitszeiterfassung wird zur Pflicht

Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Laut der Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, Inken Gallner, stehen Arbeitgeber in der Pflicht, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. In ihrer Begründung bezog sich Gallner am Dienstag in Erfurt auf das sogenannte Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). In der Bundesregierung, in der Wirtschaft und unter Arbeitsrechtlern streitet man über die Pflicht allerdings noch heftig.

Arbeitsrechtler: Entscheidung ein „Paukenschlag“

Fachleute rechnen damit, dass das BAG-Grundsatzurteil weitreichende Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben kann, weil damit mehr Kontrolle nötig ist. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht jedoch die gesamte Arbeitszeit. „Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“, erklärte Gallner in der Verhandlung.

Der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing nannte die Entscheidung der Bundesarbeitsrichter einen Paukenschlag. Sie fiel nach Verhandlung eines Falls aus Nordrhein-Westfalen. Bei diesem scheiterte ein Betriebsrat mit der Forderung, ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zu bekommen. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht sei ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt, begründete das Bundesarbeitsgericht damals seine Entscheidung.

EuGH-Vorgaben von 2019 noch nicht umgesetzt

INFO-BOX:
Bundesarbeitsgericht
Das Bundesarbeitsgericht ist das letztinstanzliche Gericht der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit. Es ist in zehn Senate mit je drei oder vier Berufsrichtern gegliedert. Das Gericht nahm seine Rechtsprechungstätigkeit im April 1954 in Kassel auf. Seit 1999 das hat Bundesarbeitsgericht seinen Sitz in Erfurt.
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Mit seinem heutigen Grundsatzurteil prescht das BAG in der Debatte um die Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes vor. Die Bundesregierung arbeitet noch daran, die EuGH-Vorgaben von 2019 zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht umzusetzen. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es dazu: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein“. Die Frage sein nun, ob ein Betriebsrat verlangen könne, dass die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers elektronisch erfasst wird, auch wenn der Arbeitgeber und vielleicht auch der Arbeitsnehmer das gar nicht wollen“, so Thüsing. Das Mitbestimmungsrecht sei geschaffen worden, „um Überwachung einzuschränken, nicht um sie zu erweitern“.

„Die heutige Entscheidung betrifft Arbeitnehmer deutschlandweit – egal, ob ein Betriebsrat besteht oder nicht“, erklärte der Hamburger Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott. „Wie das im Einzelnen umgesetzt werden soll, ist aber noch weitgehend unklar“. Es sei aber davon auszugehen, dass das jetzige Urteil neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren bringen wird. „Der Gesetzgeber ist durch die heutige Entscheidung in Zugzwang geraten“.